AKTEURE DER REVOLUTION
Ausreisebewegung
Hintergrund
Seit der Staatsgründung 1949 bis zum Bau der Mauer im Jahr 1961 verlassen etwa drei Millionen Menschen die DDR in Richtung Westen. Trotz aller Risiken sind es auch nach der Sicherung der Grenzen jährlich Tausende, die die Flucht wagen. Bis Ende 1988 gibt es in der DDR keine Rechtsgrundlage für einen „Ausreiseantrag“. Ausreisewillige sind der Willkür der Behörden ausgesetzt. Lediglich bei „Familienzusammenführungen“ und aus sonstigen „humanitären Gründen“ findet eine Prüfung statt. In anderen Fällen gilt der Antrag als „rechtswidrig“ und zieht fast immer Schikanen nach sich. Wiederholte Antragstellung nach Ablehnung kann sogar zu einer Gefängnisstrafe führen. Viele Antragstellende berufen sich auf die UNO-Erklärung über die Allgemeinen Menschenrechte und die KSZE-Schlussakte von Helsinki. Auf der Wiener Nachfolgekonferenz von 1986 bis 1989 gerät die DDR zunehmend unter Druck und schafft im November 1988 eine Rechtsgrundlage, die jedoch restriktiv gehandhabt wird.
Im September 1987 gründet sich in Ostberlin auf Initiative des mit Berufsverbot belegten Theaterregisseurs Günter Jeschonnek die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht. Die Gruppe informiert und berät Ausreisewillige über verfassungs- und völkerrechtliche Regelungen. Sie wächst von anfangs 30 Mitgliedern rasch auf 200 an. Am 10. Dezember 1987, zum Tag der Menschenrechte, findet in der Gethsemanekirche in Ostberlin eine Veranstaltung mit der Initiative Frieden und Menschenrechte und weiteren Oppositionsgruppen statt. Im Beisein von Konsistorialpräsident Manfred Stolpe stellt die Arbeitsgruppe Staatsbürgerschaftsrecht eine Erklärung vor, in der sie von den staatlichen Stellen eine rechtlich abgesicherte und einklagbare Freizügigkeit fordert. Günter Jeschonnek und weitere Initiierende der Erklärung sind am Tag zuvor ausgewiesen worden.
Innerhalb der sich formierenden Opposition ist die Haltung zu den Ausreisewilligen zwiegespalten. Weil es den Gruppen um die Demokratisierung in der DDR geht, stehen die meisten von ihnen der Ausreisebewegung distanziert bis ablehnend gegenüber. Andererseits wird das Recht auf Freizügigkeit eingefordert und verteidigt.
Freiheit ist Menschenrecht
Am 9. Januar 1988 fasst die AG Staatsbürgerschaftsrecht in den Räumen der Umweltbibliothek den Beschluss, an der von der SED jährlich inszenierten Kundgebung zum Gedenken an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht mit eigenen Transparenten teilzunehmen. 16 Transparente mit Zitaten aus den Schriften von Rosa Luxemburg sollen mitgeführt werden.
Aktive aus den Berliner Basisgruppen reagieren zurückhaltend oder distanzieren sich von dem Vorhaben. Sie stellen es jedoch ihren Mitgliedern frei, sich zu beteiligen.
Am 17. Januar, dem Tag der Demonstration, nimmt das MfS 105 Menschen fest, davon 70 am Rande der Demonstration am Frankfurter Tor. Die meisten „Zugeführten“ wollen ausreisen. 35 Menschen werden vorbeugend verhaftet, darunter der Liedermacher Stephan Krawczyk, auf dessen Transparent zu lesen ist: „Gegen Berufsverbote in der DDR“.
Oppositionelle mit ihren Transparenten am Vorabend der Liebknecht-Luxemburg-Demonstration.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernhard Freutel, RHG_Fo_BeFreu_12
Am 13. Februar 1988 demonstrieren Ausreisewillige gegenüber der Ruine der Frauenkirche in Dresden. An diesem Tag gedenken viele der Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg.
Quelle: picture-alliance/epd /Bernd Bohm
Ein Frühstück macht Geschichte
Im Mai 1989 beginnt Ungarn mit dem Abbau der Sicherungsanlagen an der Grenze zu Österreich. Unter der Schirmherrschaft des ungarischen Staatsministers Imre Poszgay und des Europa-Abgeordneten Otto von Habsburg findet am 19. August an der ungarisch-österreichischen Grenze nahe Sopron ein „Paneuropäisches Frühstück“ statt.
Das Grenztor wird für drei Stunden geöffnet. Mehrere Hundert DDR-Bürgerinnen und -Bürger nutzen diese Gelegenheit zur Flucht in den Westen.
Wenige Tage später erklärt die ungarische Regierung, sie werde die Grenze für Flüchtlinge aus der DDR öffnen. In der Nacht vom 10. zum 11. September löst sie ihre Zusage ein. Bis Ende September verlassen etwa 30.000 Menschen auf diesem Weg die DDR.
Fluchtpunkt Botschaft
Der SED entgleitet zunehmend die Situation. In Prag und in Warschau besetzen ausreisewillige DDR-Bürgerinnen und
-Bürger die bundesdeutschen Botschaften.
Anfang September halten sich bereits mehr als 3.000 Menschen auf dem Botschaftsgelände in Prag auf. Angesichts des bevorstehenden 40. Jahrestages der DDR entscheidet die SED-Führung, die „Botschaftsflüchtlinge“ ausreisen zu lassen.
Am 30. September verkündet der bundesdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher die befreiende Nachricht den in der Prager Botschaft Ausharrenden. Die DDR-Regierung besteht jedoch darauf, dass die Züge mit den Ausreisenden über DDR-Territorium in die Bundesrepublik fahren.
Am 4. Oktober 1989 werden vier Züge durch den Dresdner Hauptbahnhof geleitet. Hier versammeln sich Tausende. Sie besetzen den Bahnhof und die Gleise. Als die Polizei den Bahnhof räumen will, eskaliert die Gewalt.
Auf dem Gelände der bundesdeutschen Botschaft in Prag. Das Botschaftspersonal setzt alles daran, den hier Ausharrenden den Aufenthalt erträglich zu gestalten.
Quelle: DRK-Euskirchen
Hauptbahnhof Dresden am 4. Oktober 1989. Als die Polizei den Bahnhof räumen will, fliegen Pflastersteine, ein Polizeiwagen wird angezündet. Die Polizei geht mit Wasserwerfern, Tränengas und Schlagstöcken gegen die Demonstrierenden vor und nimmt zahlreiche Menschen fest.
Quelle: David Adam