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ORTE DER REVOLUTION

Berlin

Hintergrund

Die offensichtliche Manipulation der Kommunalwahlen vom 7. Mai 1989 hat das SED-Regime weiter delegitimiert. Nach einer ersten Demonstration vor der Sophienkirche am 7. Juni rufen Oppositionelle zum phantasievollen Protest an jedem 7. eines Monats auf dem Alexanderplatz auf. Jedes Mal kommt es zu Verhaftungen.

Am 7. Oktober 1989 versammeln sich gegen 17 Uhr zunächst einige hundert vorwiegend junge Menschen. Sie sind dem Aufruf gefolgt, mit Trillerpfeifen „auf die Wahl (…) zu pfeifen“. Nach und nach schließen sich immer mehr Frauen und Männer dem Demonstrationszug an, der sich mit Rufen wie „Auf die Straße!“, „Demokratie – Jetzt oder nie!“, „Keine Gewalt“ und „Gorbi hilf!“ in Richtung Palast der Republik bewegt. Dort feiert die SED-Führung unbeeindruckt von der Stimmung im Land und dem täglichen Exodus tausender DDR-Bürgerinnen und -Bürger „40 Jahre DDR“ als Erfolgsgeschichte. Sicherheitskräfte drängen die Demonstrierenden ab, die dann über die Schönhauser Allee zur Gethsemanekirche ziehen. Dort findet seit dem 2. Oktober eine „Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten“ statt. Brennende Kerzen vor der Kirche sind Zeichen der Solidarität mit denjenigen, die bei systemkritischen Aktionen verhaftet wurden.

Aufruf zu einer Aktion am 7. Juli 1989 gegen den Wahlbetrug

Quelle: Privat

 „Demokratie – Jetzt oder nie!“ fordern DDR-Bürgerinnen und -Bürger am 7. Oktober 1989 auf dem Alexanderplatz.

Quelle: BArch, MfS, BV Bln, Fo, 17, Bild 10

Demonstrierende durchbrechen am Abend des 7. Oktober eine Polizeikette in Berlin-Prenzlauer Berg.

Quelle: BArch, MfS, BV Bln, Fo, 41, Bild 9

Ein Polizeiaufgebot sperrt die Schönhauser Allee.

Quelle: Ralf Herzig

„Wachet und betet“ – Mahnwache an der Gethsemanekirche

Im Spätsommer 1989 drängt die Bürgerrechtsbewegung mit ihren Forderungen nach demokratischer Umgestaltung immer stärker in die Öffentlichkeit. Bei Aktionen in Leipzig, Berlin und anderen Städten werden Protestierende verhaftet.

Junge Leute aus dem Weißenseer Friedenskreis, der Umweltbibliothek und der Kirche von Unten wollen mit einer Mahnwache ihrer Forderung nach Freilassung der Inhaftierten Nachdruck verleihen. Ein solches Vorhaben ist angesichts der sich zuspitzenden innenpolitischen Krise höchst brisant. Angefragte Kirchengemeinden in der Innenstadt wollen die Risiken nicht eingehen. Der Gemeindekirchenrat der Gethsemanegemeinde entscheidet jedoch am 1. Oktober, dass die Mahnwache an der Kirche am 2. Oktober beginnen kann. Die Kirche ist nun Tag und Nacht geöffnet und wird zu einem Ort der Solidarität, des geistlichen Zuspruchs und der Verpflichtung zur Gewaltlosigkeit.

Das Transparent über dem Kirchenportal ruft auf zum „Wachen und Beten“. Tag und Nacht brennen Kerzen vor der Kirche als Zeichen der Solidarität mit den Inhaftierten.

Quelle: BArch, MfS, BV Berlin/Fo/48 Bild 13

Fürbitt- und Informationsandacht in der Gethsemanekirche. Die Kirche mit dem „offenen Mikrofon“ wird zu einem unverzichtbaren Ort des Informationsaustausches über landesweite Proteste gegen die reformunwillige SED-Führung um Erich Honecker.

Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Ostkreuz, Harald Hauswald, 891001hh102

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Bernd Albani, 1989 Pfarrer der Gethsemanegemeinde, über die ersten Kontakte zu den Organisatorinnen und Organisatoren der Mahnwache

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Bernd Albani über die Mahnwache und den wachsenden Zustrom in die Gethsemanekirche

Gegenüber der Kirche befindet sich das Gemeindehaus. Die Kontakttelefongruppe kann den Anschluss des Gemeindebüros nutzen.

Quelle: Bernd Albani

Das Kontakttelefon

Das Kontakttelefon in der Gethsemanegemeinde besteht seit dem 20. Januar 1989. Dort werden von einer bereits seit längerer Zeit aktiven Gruppe Informationen über Demonstrationen und staatliche Willkür gegen Demonstrierende und Oppositionelle gesammelt und weiterverbreitet. Auf diese Weise kann Hilfe für die Betroffenen organisiert und koordiniert werden. Auslöser ist die Verhaftung von über 50 Demonstrierenden am 15. Januar in Leipzig.

Zu Beginn ist das Telefon nur wenige Stunden in der Woche besetzt. Doch im Spätsommer und Herbst 1989 nimmt die Zahl der staatskritischen Aktionen zu, ebenso wie das massive Eingreifen von Polizei und Staatssicherheit. Nun wird das Kontakttelefon zu einer Nachrichtenzentrale der Opposition in der DDR. Im Oktober ist das Telefon rund um die Uhr besetzt. Die Kontakttelefongruppe ist wesentlich an der Gestaltung der täglichen Informations- und Fürbittandachten in der Gethsemanekirche beteiligt.

Gewaltfreier Widerstand – die Fastenaktion

Wie viele andere ist die 25-jährige Angela Kunze im Spätsommer 1989 tief betroffen angesichts der Flucht vieler DDR-Bürgerinnen und -Bürger in die Bundesrepublik.

Als am 3. Oktober 1989 die DDR-Regierung die Grenzen zur Tschechoslowakei schließt, fasst Angela Kunze einen Entschluss: Sie will ihren Protest durch eine zehntägige Fastenaktion in der Gethsemanekirche zum Ausdruck bringen.

In den nächsten Tagen schließen sich weitere Frauen und Männer der Aktion an. Aus der ganzen DDR erreichen die Protestierenden Solidaritätsbekundungen. Auch viele Besucherinnen und Besucher der Kirche zeigen ihre Verbundenheit mit den Fastenden. Sie bringen Tee, Saft, Kerzen und Blumen. Die Fastenecke bildet einen Ruhepol in der Kirche. Hier können Menschen über ihre Ängste und Sorgen sprechen.

Mit ihrem friedlichen Protest ermuntert Angela Kunze verunsicherte Menschen, sich auf die eigene Kraft zu besinnen. Immer wieder stimmt sie deshalb in diesen Tagen den Kanon „Dona nobis pacem“ an.

Zu Beginn ihrer zehntägigen Fastenaktion ist die Initiatorin Angela Kunze (im Vordergrund rechts) allein. Innerhalb weniger Tage schließen sich ihr mehr als 15 Personen an.

Quelle: epd-bild/Bernd Bohm

Aufruf zur Fastenaktion. Angela Kunze versteht ihr Fasten als „aktiven gewaltfreien Widerstand“.

Quelle: Archiv Bernd Albani

Trotz aller Differenzen treten die neu gegründeten Bewegungen und Parteien geschlossen gegen den Führungsanspruch der SED an. Auf dem Podium (von links): Erhart Neubert (Demokratischer Aufbruch), Ulrike Poppe (Initiative Frieden und Menschenrechte und Demokratie Jetzt), Stadtjugendpfarrer Wolfram Hülsemann, Hans-Jürgen Fischbeck (Demokratie Jetzt) und Ibrahim Böhme.

Quelle: epd-Bild/Bernd Bohm

„Wie nun weiter, DDR?“ – eine Frage, die in jenen Tagen viele Menschen in der DDR umtreibt. Die Erlöserkirche im Stadtbezirk Lichtenberg ist überfüllt.

Quelle: epd-Bild/Andres Schoelzel

Aufruf zur demokratischen Erneuerung

Das Stadtjugendpfarramt lädt Vertreterinnen und Vertreter von Oppositionsgruppen am Abend des 6. Oktober zu einer Zukunftswerkstatt in die Ostberliner Erlöserkirche ein. Es wird eine „Gemeinsame Erklärung“ vorgestellt, auf die sich eine Kontaktgruppe von Opposition und Friedenskreisen verständigt hat.

„Uns verbindet der Wille, Staat und Gesellschaft demokratisch umzugestalten“, heißt es in dieser Erklärung.

Es werden freie Wahlen gefordert, die unter Kontrolle der UNO stattfinden sollen. Das ist eine Kampfansage an den SED-Staat, der an diesem Abend mit einem Fackelzug der Freien Deutschen Jugend (FDJ) 40 Jahre DDR als Erfolgsgeschichte zelebriert.

7. Oktober 1989 – Tag der Republik: Volkspolizei verprügelt Volk

Gegen 20 Uhr klingelt bei Werner Widrat, dem geschäftsführenden Pfarrer der Gethsemanegemeinde, das Telefon. Am Apparat ist Stefan Musler, der für Kirchenfragen zuständige Referent beim Magistrat. Der Pfarrer solle die Kirche öffnen, einige tausend Demonstrierende zögen auf der Schönhauser Allee in Richtung Prenzlauer Berg.

Die Kirche ist seit dem 2. Oktober Tag und Nacht geöffnet. Vor dem Portal brennen Kerzen: „Mahnwache für die zu Unrecht Inhaftierten“. Bald erreichen die ersten Demonstrierenden trotz der Polizeisperren die Kirche. „Demokratie – Jetzt oder nie!“, skandieren sie. Von einer Zaunsäule herab lädt Pfarrer Bernd Albani die aufgebrachten Frauen und Männer ein, in die Kirche zu kommen, um sich über weitere Aktionen zu verständigen. „Auf die Straße!“, rufen sie und ziehen weiter. In den umliegenden Straßen gehen Polizei und Sicherheitskräfte brutal gegen die Demonstrierenden vor. Mehr als 500 Menschen werden festgenommen und in den „Zuführungspunkten“ auf entwürdigende Weise drangsaliert.

Am Abend des 7. Oktober 1989 vor der Gethsemanekirche

Quelle: BArch, MfS, BV Bln, Fo, 41, Bild 3

Mitarbeiter der Staatssicherheit in Zivil verhaften in der Nacht vom 7. zum 8. Oktober 1989 wahllos Demonstrierende.

Quelle: Nikolaus Becker

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Bernd Albani, 1989 Pfarrer der Gethsemanegemeinde, über die Ereignisse am 7. Oktober 1989

Pressekonferenz der Mahnwache am 8. Oktober 1989, von links nach rechts: Till Böttcher, Reinhard Weißhuhn, Bernd Albani

Quelle: Privat

Ecke Stargarder Straße und Pappelallee unweit der Gethsemanekirche am Abend des 8. Oktober 1989: Demonstrierende stellen Kerzen vor der Polizeikette auf.

Quelle: Evangelische Kirchengemeinde Prenzlauer Berg Nord/Archiv Gethsemane

8. Oktober 1989 – Schlagstöcke, Kerzen und Glockengeläut

In der Nacht vom 7. zum 8. Oktober 1989 suchen Frauen und Männer Zuflucht vor prügelnden Polizisten in der Gethsemanekirche. Die Übergriffe durch Polizei und Staatssicherheit kommen im sonntäglichen Gottesdienst zur Sprache. Danach laden die Initiatorinnen und Initiatoren der Mahnwache zu einer Pressekonferenz ein. Abgesandte westlicher Medien drängen sich im Gemeindesaal. Immer wieder die Frage: Von wem ging die Gewalt aus? Die einhellige Antwort: von den Sicherheitskräften.

Zur abendlichen Fürbitt- und Informationsandacht ist die Gethsemanekirche wieder überfüllt. Die Ersten wollen die Kirche verlassen, werden jedoch von Sicherheitskräften daran gehindert, die das Kirchengelände umstellt haben. Gemeindeglieder läuten die Glocken. Bischof Gottfried Forck und die Pfarrer versuchen zu vermitteln. Schließlich dürfen Menschen die Kirche in kleinen Gruppen verlassen. In den umliegenden Straßen wiederholen sich die Szenen der vergangenen Nacht. Anwohnerinnen und Anwohner solidarisieren sich mit den Demonstrierenden. In Fenstern und auf Balkonen brennen Kerzen. Zuweilen fliegen Flaschen oder Blumentöpfe auf die Straße. 524 Menschen werden festgenommen und sind auch in dieser Nacht unsäglichen Schikanen ausgesetzt.

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Cornelia Kirchgeorg-Berg, 1989 Kindergärtnerin, über die Polizeigewalt gegen friedlich Demonstrierende

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Marianne Subklew-Jeutner, Theologin, über den Abend des 8. Oktober 1989

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Bernd Albani, 1989 Pfarrer der Gethsemanegemeinde, über die Ereignisse am 8. Oktober 1989

Fürbittandacht in der Gethsemanekirche am 13. Oktober 1989: Ein Augenzeuge der Polizeieinsätze gegen friedlich Demonstrierende schreibt an das „Neue Deutschland“

Fürbittandacht in der Gethsemanekirche am 13. Oktober 1989: Ein aus der Haft Entlassener spricht über die Schikanen, denen er ausgesetzt war

Fürbittandacht in der Gethsemanekirche am 13. Oktober 1989: Ein Augenzeuge berichtet über die Misshandlung eines unbeteiligten Jugendlichen durch die Polizei

9. Oktober 1989 – „Dona nobis pacem“: Befreiende Nachricht aus Leipzig

Der Morgen des 9. Oktober 1989: Kein grün uniformierter Volkspolizist, kein auffällig unauffälliger MfS-Mitarbeiter in Zivil im Umfeld der Gethsemanekirche. Ein ungewohntes Bild. Aus Leipzig jedoch kommen über das Kontakttelefon beunruhigende Nachrichten: Krankenhäuser seien angewiesen, Betten und Blutkonserven bereitzuhalten. In der „Leipziger Volkszeitung“ erklärt ein Kommandeur der paramilitärischen Kampfgruppen, man sei bereit, „das von uns mit unserer Hände Arbeit Geschaffene zu verteidigen, wenn es sein muss mit der Waffe in der Hand.“

Die Atmosphäre in der 18 Uhr beginnenden Fürbitt- und Informationsandacht ist äußerst angespannt. 18:35 Uhr kommt über das Kontakttelefon die erlösende Nachricht: Zehntausende Bürgerinnen und Bürger demonstrieren nach dem Montagsgebet in mehreren Leipziger Kirchen auf dem Ring um die Innenstadt. Die Sicherheitskräfte haben sich zurückgezogen.

„Dona nobis pacem“ singend ziehen die Besucherinnen und Besucher der Andacht aus der Kirche, viele mit Kerzen, manche mit Tränen in den Augen, erfüllt von dem Gefühl: Noch ist nichts gewonnen, doch von nun an ist alles möglich …

Fürbittandacht in der Gethsemanekirche am 12. Oktober 1989: Bitte um Solidarität für die Verhafteten Henrik Schulze und Torsten Röder

Fürbittandacht in der Gethsemanekirche am 13. Oktober 1989: Bischof Gottfried Forck zur Mitteilung des Staatssekretärs für Kirchenfragen, dass alle Verhafteten entlassen wurden

Fürbittandacht in der Gethsemanekirche am 13. Oktober 1989: Marianne Birthler bittet um Benachrichtigung, wenn Menschen noch in Haft sind oder freigelassen wurden

Die Forderungen der Mahnwache werden umfassender. Sie verlangt nicht nur die Freilassung der Inhaftierten, sondern mehr Demokratie. Der Gewalt der Sicherheitskräfte wird strikte Gewaltlosigkeit entgegengesetzt.

Quelle: Archiv Bernd Albani

Nach der befreienden Nachricht aus Leipzig: Lange noch verweilen Menschen vor der Kirche. Auch aus den Fenstern umliegender Häuser grüßen brennende Kerzen.

Quelle: epd-bild/Harald Hauswald

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Bernd Albani, 1989 Pfarrer der Gethsemanegemeinde, über die Ereignisse am 9. Oktober 1989

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Bernd Albani über die Ereignisse in der Gethsemanekirche im Oktober und November 1989

Aus einem Gedächtnisprotokoll: Der Berichtende ist am 8. Oktober 1989 gegen 23:30 Uhr am U-Bahnhof Alexanderplatz festgenommen und mit weiteren Personen zum Polizeirevier in Hellersdorf gebracht worden. Am frühen Morgen des 9. Oktober wird er nach einer Vernehmung entlassen.

Quelle: Archiv Bernd Albani

Die Pressekonferenz sollte eigentlich in der Gethsemanekirche stattfinden. Auf Drängen von Konsistorialpräsident Manfred Stolpe wird sie in einen Außenbezirk verlegt. Von links nach rechts: Ehrhart Neubert, Jürgen Gernentz, Marianne Birthler, Werner Fischer, Christoph Singelnstein, Angelika Barbe, Reinhard Schult, Walter Schilling.

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Thomas Zickler

Gedächtnisprotokolle – Machtmissbrauch offenlegen

Zwischen dem 7. und 9. Oktober 1989 werden in Ostberlin mehr als eintausend Menschen festgenommen. In Polizeikasernen und anderen „Zuführungspunkten“ sind sie entwürdigenden Schikanen ausgesetzt. Die Mehrzahl von ihnen wird in den folgenden Tagen, oft unter Androhung von Strafverfahren, auf freien Fuß gesetzt.

Ihre Berichte zeugen von der Brutalität, mit der die Sicherheitskräfte gegen gewaltfrei demonstrierende Bürgerinnen und Bürger, aber auch gegen Unbeteiligte vorgegangen sind. Viele Betroffene folgen dem Aufruf der Kontakttelefongruppe, Gedächtnisprotokolle über das Erlebte anzufertigen. Im Stadtjugendpfarramt werden die Protokolle gesammelt und zu einer Dokumentation zusammengestellt.

Auf einer Pressekonferenz im evangelischen Gemeindezentrum Am Fennpfuhl wird sie am 23. Oktober der Öffentlichkeit und dem DDR-Generalstaatsanwalt Klaus Voß übergeben.

Es ist der Vorabend der Wahl von Egon Krenz zum Staatsratsvorsitzenden. Die SED-Führung versucht vergeblich, die Veröffentlichung der Gedächtnisprotokolle zu verhindern.

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Martin-Michael Passauer, Ende der 1980er Jahre Referent von Bischof Gottfried Forck, über die Arbeit der Untersuchungskommission zu den Übergriffen der Sicherheitskräfte

Auszug aus einem Tonbandmitschnitt von der Sitzung der SED-Parteigruppe der Volkskammer am Vormittag des 24. Oktober 1989: Politbüromitglied Günter Schabowski berichtet, wie er Konsistorialpräsident Manfred Stolpe drängte, die Veröffentlichung der Gedächtnis­protokolle zu verhindern

Fürbittandacht in der Gethsemane­kirche am 23. Oktober 1989: Christoph Singelnstein berichtet von der Pressekonferenz, bei der die Gedächtnisprotokolle der Öffentlichkeit übergeben wurden

Fürbittandacht in der Gethsemane­kirche am 13. November 1989: Stellungnahme von Marianne Birthler, Werner Fischer und Walter Schilling zu ihrem Ausscheiden aus der gemeinsamen Untersuchungs­kommission

Gebet in der Sankt Hedwigs-Kathedrale

Die katholische Kirche hält sich aus allen politischen Aktivitäten heraus. Obwohl der Magdeburger Bischof Braun im September Katholikinnen und Katholiken zu politischem Handeln ermutigt, wird ein Gebet am 7. Oktober 1989 in der Berliner Bischofskirche Sankt Hedwig untersagt. Es sollte ein Zeichen der Solidarität mit dem Protest in der Gethsemanekirche sein.

Trotz des Verbots harrt eine kleine Gruppe von Betenden am 7. Oktober den ganzen Tag in der Unterkirche aus, während nur einige hundert Meter entfernt, im Palast der Republik, der 40. Jahrestag der DDR mit den Staatsoberhäuptern der sozialistischen Länder gefeiert wird. Am 16. Oktober findet auf Druck kirchlicher Mitarbeiterinnen das erste offizielle Montagsgebet in Sankt Hedwig statt. Der Andrang ist groß. Das wöchentliche Montagsgebet wird bis zum 16. April 1990 fortgeführt.

Es wird zu einem Ort der Fürbitte, der Information und Ermutigung und zu einem Ausgangspunkt für „Kerzen-Demonstrationen“.

 „St. Hedwigsblatt“ vom 29. Oktober 1989

Quelle: St. Hedwigsblatt. Katholisches Kirchenblatt im Bistum Berlin, Nr. 44, 29. Oktober 1989, S. 352

1986 findet in Sankt Hedwig ein Taizé-Gebet mit Roger Schutz statt. Die seitdem bestehende Gebetsgruppe unterstützt im Oktober 1989 Angela Kunze in der Gethsemanekirche und ist auch am 7. Oktober 1989 in Sankt Hedwig präsent.

Quelle: Katharina Jany

 „Konzert gegen Gewalt“: Mehr als 30 Liedermacher und Bands spielen in der Erlöserkirche. „So winkt man, wenn der Zug abfährt“, intoniert Toni Krahl ein Spott-Ständchen auf Erich Honecker. Zwei Tage später wird der greise Staatschef per Beschluss des SED-Politbüros abgesetzt.

Quelle: ullstein bild/Klaus Mehner

 „Wider den Schlaf der Vernunft“ – eine emotional aufgeladene Aktion Berliner Künstlerinnen und Künstler. Es wird eine unabhängige Kommission gefordert, die die Ereignisse vom 7. und 8. Oktober untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen soll.

Quelle: Süddeutsche Zeitung Photo/Rolf Zöllner

Wider den Schlaf der Vernunft

Am 15. Oktober 1989 findet in der Erlöserkirche in Berlin-Lichtenberg ein „Konzert gegen Gewalt“ statt – als Zeichen der Solidarität mit den Opfern der Polizeieinsätze eine Woche zuvor. Prominente Bands wie „Silly“ mit Tamara Danz und „City“ mit Toni Krahl sind dabei, ebenso Gerhard Gundermann und André Herzberg.

Auch am 28. Oktober ist die Erlöserkirche mit mehr als 4.000 Besucherinnen und Besuchern überfüllt. „Wider den Schlaf der Vernunft“ ist eine Gemeinschaftsaktion Berliner Künstlerverbände zugunsten der Opfer des staatlichen Machtmissbrauchs. Unter den 70 Schriftstellerinnen und Schriftstellern, Künstlerinnen und Künstlern sowie Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern sind Christa Wolf, Stefan Heym und Stephan Hermlin. Fünf Stunden lang lauscht das Publikum den Reden, Liedern und Gedichten. Dieses Fest kritischer Vernunft wird zu einem intellektuellen Höhepunkt des Aufbegehrens gegen Dummheit und Machtmissbrauch.

Der Alexanderplatz am 4. November 1989 – Ein Fest der Demokratie

Am 15. Oktober 1989 beschließen Theaterleute, eine Demonstration mit anschließender Kundgebung für Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit offiziell in Berlin anzumelden. Sie wird genehmigt. Die Veranstalterinnen und Veranstalter vereinbaren eine Sicherheitspartnerschaft mit der Polizei und stellen hunderte Ordnerinnen und Ordner, die an ihrer Schärpe „Keine Gewalt“ zu erkennen sind. Am Vormittag des 4. November ziehen zehntausende Menschen mit phantasievollen Plakaten aus allen Bezirken Ostberlins und vielen Teilen der DDR zum Alexanderplatz.

„Es ist, als habe einer die Fenster aufgestoßen nach all den Jahren der Stagnation, der geistigen, wirtschaftlichen, politischen, den Jahren von Dumpfheit und Mief, von Phrasengewäsch und bürokratischer Willkür, von amtlicher Blindheit und Taubheit. Welche Wandlung!“ Mit diesen Worten beginnt Stefan Heym seine Rede und erntet Beifall. MfS-General Markus Wolf wirbt um Verständnis für seine Leute und provoziert Pfiffe und Buhrufe. Immer wieder geht es in den Reden um die Mühsal des „aufrechten Ganges“, um einen Sozialismus mit menschlichem Antlitz und um eine radikale Erneuerung der Gesellschaft.

Prominente Schauspielerinnen und Schauspieler an der Spitze des Demonstrationszuges. Es geht um Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit. Sie sind in den Artikeln 27 und 28 der DDR-Verfassung formal garantiert, durch ein rigides Strafrecht jedoch faktisch außer Kraft gesetzt.

Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Rolf Walter

Marianne Birthler von der Initiative Frieden und Menschenrechte während ihrer Rede auf der Kundgebung: „Wir sind hier, weil wir Hoffnung haben. Auf diesem Platz ist hunderttausendfache Hoffnung versammelt. Hoffnung, Phantasie, Frechheit und Humor.“

Quelle: BArch, Bild 183-1989-1104-043/Hubert Link

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