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DIE BERGPREDIGT

Die Rolle der Bergpredigt in der DDR

Hintergund

Angesichts der atomaren Hochrüstung in Ost und West findet die Bergpredigt mit ihren klaren ethischen Prinzipien (Gewaltlosigkeit, Frieden, Versöhnung) in den 1980er Jahren sowohl in der Friedensbewegung als auch in den Kirchen eine zunehmende Beachtung.
Wehrdienstverweigerer und Bausoldaten berufen sich auf sie und werden auch von kirchlichen Stellen dazu ermutigt.

Die Überwindung des Freund-Feind-Denkens, die in der Bergpredigt gefordert wird, ist ein wichtiges Anliegen der kirchlichen Friedensbewegung. Mit seinem Lied „Lieber Feind in der Ferne“ (1987) bringt der Liedermacher Gerhard Schöne dieses Anliegen zum Ausdruck.

Protest von Christinnen und Christen in Ostberlin gegen die atomare Hochrüstung kurz vor seiner Auflösung durch staatliche Sicherheitsorgane, 1984 

Quelle: Bernhard Ullrich/Dörthe Beyer

Zur Popularität der Bergpredigt in kirchlichen Friedensgruppen trägt auch das Buch „Frieden ist möglich. Die Politik der Bergpredigt“ (1983) des westdeutschen Journalisten Franz Alt bei. „Ohne die Bergpredigt“, so mahnt er, „nähern wir uns dem Ende der Geschichte“.

Quelle: Privat

Ruth Misselwitz (*1952), im Jahr 1989. Die evangelische Pfarrerin, Gründungsmitglied des Pankower Friedenskreise (1981), ist überzeugt, dass man mit der Bergpredigt Politik machen kann. Die Bergpredigt bildet die Grundlage für ihr Friedensengagement.

Quelle: Bernhard Ullrich/Dörthe Beyer (1955-2015)

Für den Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg, Gottfried Forck gilt die Feindesliebe auch im Umgang mit den Verantwortungsträgern im Staatsapparat. Als Vermittler zwischen Staat und Opposition genießt er, wie viele andere Kirchenvertreter, großes Ansehen.

Forck erklärt sich auf wiederholtes Bitten der Übergangsregierung unter Hans Modrow bereit, dem ehemaligen SED-Parteichef  Erich Honecker eine sichere Unterkunft im Raum der Kirche zu vermitteln.

Der evangelische Pfarrer Uwe Holmer und seine Frau Sigrid nehmen Erich und Margot Honecker im Februar 1990 in ihr Pfarrhaus in Lobetal auf.

„Ich glaube, dass die DDR das Zeugnis der Liebe gerade jetzt so nötig braucht wie nie zuvor

Gottfried Forck am 30. Januar 1988

„Die Bergpredigt wird von uns nie politisch ratifiziert werden können, und gleichzeitig sind ihre ethischen Prinzipien zur Überlebensbedingung der Menschheit geworden. (...) Es bleibt unsere Aufgabe, Utopie und Realität miteinander zu vermitteln, damit die Realität nicht utopielos und die Utopie nicht realitätsfern wird.“

Friedrich Schorlemmer in einem Interview mit Lothar Petzold am 6. Juli 1990 in der „Süddeutschen Zeitung“

„Die großen Konflikte der Zeit wären lösbar, wenn wir Menschen die Kraft fänden, persönlich und politisch gemäß der Bergpredigt zu handeln. Ihren absoluten sittlichen Forderungen zu entsprechen, wäre vielleicht die einzige ausreichende Antwort, um Frieden und Gerechtigkeit zu erlangen.“

Richard von Weizsäcker in seiner Laudatio zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels 1993 an Friedrich Schorlemmer

Friedrich Schorlemmer (*1944), streitbarer evangelischer Theologe am Predigerseminar der Lutherstadt Wittenberg und Unterstützer der oppositionellen Friedens-, Menschenrechts- und Umweltbewegung in der DDR, spricht bei der Demonstration am 4. November 1989 auf dem Berliner Alexanderplatz.

BArch, Bild 183-1989-1104-038/Hubert Link

Gottfried Forck (1923–1996), Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (1981–1991) solidarisiert sich mit der kirchlichen Friedensbewegung, trägt den Aufnäher „Schwerter zu Pflugscharen“ und setzt sich konsequent für politisch Benachteiligte ein.

Quelle: Beatrix Forck

Uwe Holmer (*1929), im Jahr 2000. Der evangelische Pfarrer ist seit 1983 Leiter der Hoffnungstaler Anstalten Lobetal, einer diakonischen Einrichtung zu Betreuung alter und behinderter Menschen. Uwe Holmer beherbergt vom 30. Januar bis 3. April 1990 das Ehepaar Honecker in seinem Haus und bietet ihm dadurch Schutz vor Racheakten.

Wikimedia Commons/Paul Peplow

Quelle: Katharina Jany

Ruth Misselwitz, Gründungsmitglied des Pankower Friedenskreises, über die Bedeutung der Bergpredigt für den Pankower Friedenskreis

Die Bergpredigt im katholischen Bischofswort (1983)

Die Berliner Bischofskonferenz ist die Versammlung der katholischen Bischöfe der DDR. Angesichts der atomaren Hochrüstung verweisen die Ostdeutschen Bischöfe in ihrem gemeinsamen Hirtenwort zum Weltfriedenstag am 1. Januar 1983 auf die Bergpredigt.

„An sich vertritt die kirchliche Lehre keinen absoluten Pazifismus, d. h. sie hält unter Umständen die Anwendung von Gewalt für erlaubt, angebracht oder sogar geboten, etwa dort, wo das Recht des Schwächeren geschützt werden muss. (...) [B]ei begrenzten Konflikten mag dieser Grundsatz durchaus stimmen. Aber kann er auch dort gelten, wo Gewalt unterschiedslos zuschlägt, wie etwa in einem Krieg mit dem Einsatz von Kernwaffen? Gewinnt hier nicht das häufig belächelte Ideal der Gewaltlosigkeit, wie es uns Jesus Christus in der Bergpredigt verkündigt, eine bisher ungeahnte rationale Aussagekraft?“

Auszug aus dem gemeinsamen Hirtenwort der Berliner Bischofskonferenz am 1. Januar 1983

Die Synode setzt auf Michail Gorbatschow (1986)

40 Jahre nach dem Atombombenangriff auf Hiroshima, am 6. August 1986, erklärt Michail Gorbatschow ein einseitiges Atomtest-Moratorium und unterbreitet am 15. Januar 1986 einen Dreistufenplan für den Abbau aller Atomwaffen bis zum Jahr 2000. Die „Synode des Bundes der evangelischen Kirchen in der DDR“, stellt dazu in ihrem Beschluss am 23. September 1986 fest:

„Die Synode sieht in dem ‚neuen Denken‘, das sich in den Reden Michail Gorbatschows und anderer führender Politiker, in den Abrüstungsvorschlägen und in dem einseitigen Schritt des Atomtestmoratoriums der Sowjetunion ausspricht, ein Zeichen der Hoffnung. Mit dem Bericht der Konferenz der Evangelischen Kirchenleitungen erkennt die Synode in der Überwindung gewaltsamer Konfliktlösungen, des Freund-Feind-Denkens sowie in dem Verzicht auf Überlegenheit eine Nähe zu Weisungen der Bergpredigt, die auf eine Vertiefung der Kooperation von Christen und Nichtchristen hoffen lässt.“

Persönliche Friedensverträge mit dem „Klassenfeind“ (1987)

Im Meißner Friedenskreis werden bei einem Workshop persönliche Friedensverträge mit dem sogenannten Klassenfeind verfasst und verschickt.

Ein Beispiel für eine symbolische Ent-Feindung aus dem Meißner Friedenskreis. 

Quelle: „Reader. 30 Jahre Gewaltfreie Revolution“, Versöhnungsbund, 2019

Gerhard Schöne beim Festival des Politischen Liedes, 1988

Quelle: BArch, Bild 183-1988-0216-033/Gabriele Senft

Gerhard Schöne singt das „Lied an den Feind“

Gerhard Schöne

Der Liedermacher Gerhard Schöne (*1952) ist ein Pfarrerssohn aus Coswig. Als Bausoldat verweigert er den Dienst mit der Waffe. Er singt in Kirchen, Kulturhäusern, Betrieben und auch beim Festival des Politischen Liedes. Frei von Berührungsängsten gelingt ihm ein regelrechter Drahtseilakt. Seine Gesellschaftskritik versteht er so zu äußern, dass jeder sie versteht und sie dennoch die Zensur passiert. Seine Lieder sind voll Wärme und Fantasie und vermitteln menschliche, christliche Werte. Sie ermutigen, aktiv an einer besseren Welt mitzuwirken.

Gerhard Schöne ist für viele Menschen ein Hoffnungsträger, und zwar sowohl für Systemkonforme, die sich Veränderungen wünschen, als auch für Oppositionelle.

Quelle: Katharina Jany

Gerhard Schöne über die Konsequenz seiner Entscheidung zum Dienst als Bausoldat

Gerhard Schöne über seinen Balanceakt als Christ und Liedermacher auf sozialistischen Bühnen

Wie Gerhard Schöne manchmal die Zensur überlisten konnte

Bischof Gottfried Forck predigt Feindesliebe (1988)

Bischof Gottfried Forck predigt in der überfüllten Gethsemane-Kirche anlässlich der Verhaftung von 42 Demonstrierenden während der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988:

„Wenn uns aufgetragen ist, dass wir für die beten sollen, die uns verfolgen, dann heißt das doch für uns: Wir sollen dafür beten, dass die Menschen, die in den Gerichten und im Staatsapparat hier Entscheidungen zu vollziehen haben, plötzlich merken, dass wir gar nicht gegen sie sind, sondern dass wir für mehr Menschlichkeit und mehr Gerechtigkeit auch zu ihrem Besten sind. (…) Ich glaube, dass die DDR das Zeugnis der Liebe gerade jetzt so nötig braucht wie nie zuvor. Die uns das Leben schwer machen, sollen merken, dass wir nicht gegen sie sind, im Letzten wohl gegen ihre falschen Maßnahmen, (...) aber nicht gegen sie als Personen. Sie sollen merken, dass wir sie gewinnen möchten für den gemeinsamen Weg zu einer besseren Gerechtigkeit.“

Bischof Gottfried Forck in der Gethsemanekirche im Herbst 1989. Entschlossen setzt sich Gottfried Forck für die politisch Inhaftierten ein, mahnt aber auch zu Geduld und Mitmenschlichkeit gegenüber der Regierung.

Quelle: picture-alliance/epd/Bernd Bohm

Ausschnitt einer Ansprache von Bischof Gottfried Forck in der Gethsemanekirche am 12. Oktober 1989

Symbol der Ökumenischen Versammlung

Quelle: Archiv Reinhard Assmann

Wort der Ökumenischen Versammlung zur Friedenserziehung (1989)

Die Ökumenische Versammlung in Dresden 1989 verweist in ihrem Abschlussdokument auf die Bedeutung der Feindesliebe bei der Friedenserziehung:

„In der Nachfolge Christi ist uns aufgetragen, Feindschaften zu überwinden und Feinde zu versöhnen. Wir müssen uns gegenseitig helfen, friedensfähig zu werden. Dazu ist Friedenserziehung in allen Bereichen unseres Zusammenlebens nötig.

Jesus hat uns in der Bergpredigt die Feindesliebe gelehrt und sie vorgelebt. Er machte deutlich, dass Liebe mehr ausrichten kann als Hass. Feindesliebe sieht in Feindschaft etwas Vorläufiges. Sie versucht, sich in das Denken und Fühlen des Gegners hineinzuversetzen (‚Lerne in den Mokassins des anderen zu gehen‘ – indianisches Sprichwort). Sie ermöglicht so Ent-Feindung der Feinde.“

Feindesliebe konkret: Erich Honecker im „Kirchenasyl“ (1990)

Auf die mehrfache Bitte der DDR-Regierung unter Hans Modrow verspricht Bischof Gottfried Forck, dem Ehepaar Honecker im Raum der Kirche Obdach zu bieten. Ziel ist es, für den ehemaligen Staatsratsvorsitzenden einen Ort zu finden, wo er vor Racheakten geschützt ist.

Die Hoffnungstaler Anstalten in Lobetal bei Bernau bieten sich an. Damit kein Heimplatz wegfallen muss, nehmen Pastor Uwe Holmer und seine Frau Sigrid die Honeckers am 31. Januar 1990 in ihre Privatwohnung auf, wo sie zehn Wochen verbringen. Nach Anfeindungen aus der Bevölkerung verweisen Holmers auf das Gebot Jesu zur Vergebung und auch auf die Feindesliebe. Im April ziehen die Honeckers in einen sowjetischen Militärstützpunkt und von dort in die Sowjetunion. Später wandern sie nach Chile aus. 

Pfarrer Uwe Holmers Erklärung zur Aufnahme der Honeckers im Februar 1990

Quelle: Reinhard Assmann

Quelle: „Die Kirche“ vom 11. Februar 1990, S. 1

Der Beitrag „Frieden auf Erden“ von Christian Führer in „Die Kirche“, 2008

Quelle: „Die Kirche“ vom 21. Dezember 2008

Christian Führer (links) beim 2. Ökumenischen Kirchentag 2010 in der Ausstellung „Keine Gewalt“ mit Reinhard Assmann und Katharina Jany 

Quelle: Katharina Jany/Veronika Ullrich

Ein Resümee von Pfarrer Christian Führer (2008)

Christian Führer (1943–2014), Pfarrer an der Leipziger Nikolaikirche, resümiert 2008:

„Da der Großteil der Kirche sich zu lange unter dem Motto ‚Thron und Altar‘ mit Macht und Gewalt verbündet hatte, (…) hat sie die Bergpredigt zur Jenseits-Ethik abgestempelt (…). Mahatma Gandhi, ein Hindu, (…) nahm die Botschaft Jesu der Gewaltlosigkeit und Feindesliebe konsequent auf und erreichte damit die Befreiung Indiens vom britischen Kolonialjoch (…) Auch die Friedliche Revolution mit dem Kerndatum 9. Oktober 1989 in Leipzig gehört in die Reihe der Realerfahrungen mit der Bergpredigt, mit der Macht der Gewaltlosigkeit. Sie war in dem machtvollen Ruf ‚Keine Gewalt‘ auf den Nenner gebracht. Wurde nicht nur gerufen, sondern konsequent praktiziert: (…). Frieden wurde riskiert, Entfeindung praktiziert, wie sie Jesus ausgesprochen und gelebt hatte: ,Liebe deine Feinde!‘“.

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