Skip to content

DIE BERGPREDIGT

Unter­schiedliche Aus­legungen
in der Geschichte

Hintergrund

Die Bergpredigt beeindruckt und inspiriert Menschen über die Jahrhunderte bis heute. Sie spricht die tiefe Sehnsucht vieler Menschen nach einem Leben in Gerechtigkeit und Frieden an.

Aber ist es den Menschen überhaupt möglich, die radikalen Forderungen der Bergpredigt zu erfüllen? Ebenso ungelöst ist die Frage, wie sich die Ausübung staatlicher und militärischer Gewalt und die Anhäufung von Reichtum mit den Grundsätzen der Bergpredigt vereinbaren lassen. Im abendländischen Christentum werden darauf unterschiedliche Antworten gegeben.

Abb.: Christus zerbricht das Gewehr, Holzschnitt von Otto Pankok,1950. 

Quelle: Otto Pankok Stiftung, Hünxe-Drevenack

Die Bergpredigt im Altertum

Die frühe Kirche ist überzeugt, dass jede Christin und jeder Christ entsprechend der Bergpredigt leben soll. Um 100 n. Chr. heißt es in der ersten Kirchenordnung, der Didache: „Wenn du (…) das ganze Joch des Herrn auf dich nehmen kannst, wirst du vollkommen sein; wenn du es aber nicht kannst, tu das, was du kannst.“

In Zeiten der Verfolgung bekennen sich zahllose Christinnen und Christen zu ihrem Glauben und nehmen in der Nachfolge Jesu dafür bereitwillig den Tod auf sich. Der erste christliche Märtyrer, von dem der Evangelist Lukas in der Apostelgeschichte berichtet, ist Stephanus.

Lukas erzählt, dass Stephanus im Geist der Bergpredigt für seine Mörder betet: „Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an.“

Steinigung des Heiligen Stephanus, Gemälde von Giovanni Domenico Tiepolo, 1754

Quelle: bpk/Bayerische Staatsgemäldesammlung

Krönung Kaiser Heinrichs II. und seiner Gemahlin Kunigunde durch Christus selbst, aus dem Evangelienbuch Heinrichs des Löwen, um 1188. Das Bild illustriert die Verbindung von Thron und Altar, die nach der Taufe von Kaiser Konstantin im Jahr 337 das christliche Mittelalter prägt.

Quelle: Bayerische Staatsbibliothek, München

Die Bergpredigt im Mittelalter

Als die Kirche politische Macht gewinnt, wird die Lehre der Bergpredigt zum Problem. Die christlichen Herrscher, die ihre Macht von Gott ableiten, wollen und können nicht auf den Einsatz von militärischer Gewalt verzichten.

Zudem steht die Anhäufung von Reichtum und Macht im Widerspruch zum Armutsideal der Bergpredigt. Die mittelalterliche Theologie löst das Problem, indem sie die Bergpredigt zu einer besonderen Ethik erklärt, die in ihrer Gesamtheit nur Priestern und Ordensleuten zu befolgen ist.

Immer wieder entstehen jedoch aus der Kirche heraus christliche Reformbewegungen, die zu einem konsequenten Leben nach dem Evangelium und der Bergpredigt aufrufen.

Die Bergpredigt in der frühen Neuzeit

Für Martin Luther (1483–1546) lebt der Christ in zwei unterschiedlichen Welten (Zwei-Reiche-Lehre) – in der Welt Gottes und in der politischen Welt. Als „Christperson“ gilt für ihn die Bergpredigt, als „Weltperson“ muss er sich den Anordnungen der Obrigkeit fügen, einschließlich der Ausübung von Gewalt.

Unter dem Einfluss von Luthers Rechtfertigungslehre wird die Bergpredigt, da sie nur von wenigen erfüllt werden kann, zu einem Nachweis für die Sündhaftigkeit des Menschen. Die Bergpredigt überführt gewissermaßen den Menschen der Sünde. Der Mensch muss einsehen, dass er allein durch die Gnade Gottes gerettet werden kann. 

Neben der lutherischen und Schweizer Reformation (Huldrych Zwingli, Johannes Calvin) entstehen im 16. und 17. Jahrhundert die sogenannten historischen Friedenskirchen, die das Evangelium Jesu mit der Bergpredigt zum Maßstab ihres Handelns machen – auch auf politischer Ebene (Hutterer, Mennoniten, Quäker).

Martin Luther, Gemälde von Lukas Cranach dem Älteren, um 1520

Quelle: Hessisches Landesmuseum Darmstadt/Wolfgang Fuhrmannek

Lew Tolstoi in Jasnaja Poljana, 1908, erste Farbfotografie in Russland

Quelle: Sergei Prokudin-Gorskii

Die Bergpredigt im 20. Jahrhundert

Lew Tolstoi erfährt im Militärdienst die Schrecken zweier Kriege. 1869 erscheint sein später weltberühmter Roman „Krieg und Frieden“, in dem er seine Kriegserfahrungen verarbeitet und die Sinnlosigkeit des Krieges beschreibt. Tolstoi wird Pazifist und entdeckt die Bergpredigt als einen Schlüsseltext.

Viele Auslegungen der Bergpredigt zu Beginn des 20. Jahrhunderts stehen unter seinem Einfluss. Auch Mahatma Gandhi ist von der Bergpredigt und von Tolstois Schriften beeindruckt. Die Erfahrungen der Weltkriege und die atomare Bedrohung geben den Prinzipien der Bergpredigt im 20. Jahrhundert eine neue Aktualität.

Mehr zum Weg der Gewaltlosigkeit