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GEWALTLOS WELTWEIT

Kein Friede ohne Versöhnung

Hintergrund

Kriege, Bürgerkriege und politische Umbrüche hinterlassen oft tiefe Gräben zwischen den Konfliktparteien. Menschen, die Opfer von Gewalt, Zerstörung und Vertreibung geworden sind, können nicht plötzlich in friedlicher Nachbarschaft mit ehemaligen Gegnern oder Tätern leben. Daher ist neben der politischen Aussöhnung auch eine Versöhnung auf zivilgesellschaftlicher Ebene erforderlich. Im Folgenden werden wegweisende Beispiele für Versöhnungsarbeit vorgestellt.

Die Organisation Aktion Sühnezeichen unterstützt nach dem Zweiten Weltkrieg Opfer des Nationalsozialismus, um damit Zeichen der Sühne und Wiedergutmachung zu setzen.  Der Holocaust-Überlebende Reuven Moskovitz baut Brücken der Verständigung zwischen jüdischen und palästinensischen Menschen, sowie zwischen Israelis und Deutschen. Die Aussöhnung zwischen Polen und Deutschland beginnt mit ersten zivilgesellschaftlichen Kontakten in den 1950er und 1960er Jahren. Für die französisch-deutsche Aussöhnung steht neben der Organisation Pax Christi auch das Deutsch-Französische Jugendwerk. 

Weltweit gibt es inzwischen vielfältige Initiativen und Organisationen, die sich, oft aus persönlicher Betroffenheit, für Versöhnung zwischen verfeindeten Gruppen einsetzen. Eindrückliche Beispiele sind das Parents Circle Families Forum und eine christlich-muslimische Initiative in Nigeria.

Internationale Friedensorganisationen schicken in den 1990er Jahren Friedensfachkräfte in die Balkanregion, um den Versöhnungsprozess zwischen den verfeindeten Gruppen nach den Jugoslawienkriegen zu unterstützen. Nach dem Sturz von Diktaturen und Unrechtsregimen werden meist nur die Hauptverantwortlichen von Menschenrechtsverletzungen bestraft. Viele, die ein Unrechtssystem unterstützt haben oder Mittäterinnen und -täter waren, werden als Fachkräfte gebraucht und übernehmen wieder Führungspositionen. Ohne eine persönliche und öffentliche Aufarbeitung von Unrecht ist der soziale Friede im Land nur schwer herzustellen. Ein erfolgreicher Ansatz sind Wahrheits- und Versöhnungskommissionen. Die ersten werden 1990 in Chile ins Leben gerufen. Nach dem chilenischen Beispiel setzt auch Nelson Mandela in Südafrika 1994 eine solche Kommission ein.

Arbeitseinsatz in einem internationalen Sommerlager der Aktion Sühnezeichen 1966. Auslandseinsätze der Aktion Sühnezeichen werden in der DDR nur selten genehmigt. Deswegen finden die meisten Sommerlager in diakonischen Einrichtungen der DDR statt, wie hier im Martinshof, einer Einrichtung für Behinderte und Pflegebedürftige in Rothenburg bei Görlitz.

Quelle: Bernd Albani

Die Deutsche Post erinnert 2020 mit einer Sonderbriefmarke an den historischen Kniefall von Warschau. Für seine Politik der Entspannung erhält Willy Brandt 1971 den Friedensnobelpreis.

Quelle: Privat

Weltkarte der Wahrheitskommissionen im Museum der Erinnerung und der Menschenrechte in Santiago de Chile, 2010

Quelle: Wikimedia Commons/Warko

Quelle: Katharina Jany

Gerhard Schöne singt „Meine Rache“, ein Lied über den Schriftsteller und Freiheitskämpfer Tomás Borge, der nach der Revolution in Nicaragua (1979) als Innenminister seinen ehemaligen Folterern vergibt.

Gerhard Schöne über sein Lied „Meine Rache“ und Thomas Borghe

Der anglikanische Erzbischof Desmond Tutu bei seiner Einführung des neugewählten Präsidenten Nelson Mandela am 9. Mai 1994 in Kapstadt

Quelle: Getty Images/The Washington Post

Frauen aus dem Parents Circle Family Forum (PCFF), einer Initiative von jüdischen und palästinensischen Eltern, die ihre Kinder oder Angehörigen durch kriegerische oder terroristische Gewalt verloren haben. In ihrem gemeinsamen Leid finden sie zueinander und suchen nach Wegen zur Überwindung von Hass und Gewalt.

Quelle: PCFF/www.theparentscircle.org

Die Aktion Sühnezeichen

Die Aktion Sühnezeichen (ASZ) wird 1958 auf Initiative Lothar Kreyssigs als gesamtdeutsche Initiative gegründet. Der Jurist hat sich durch seinen Einsatz gegen die Euthanasie während der NS-Zeit großes Ansehen erworben und bekleidet ein hohes Amt innerhalb der evangelischen Kirche in der DDR. Über die Aktion Sühnezeichen sollen junge Leute in Länder gehen, deren Bevölkerung durch Deutsche unsägliches Leid zugefügt wurde, um nach den Gräueltaten des NS-Regimes konkrete, praktische Zeichen der Sühne zu setzen.

In der DDR ist die Arbeit der ASZ nur eingeschränkt möglich. Auslandseinsätze werden selten genehmigt. Sommerlager der ASZ finden meist in kirchlichen und sozialen Einrichtungen in der DDR statt. Erst seit den 1980er Jahren sind Einsätze in den KZ-Gedenkstätten Buchenwald, Ravensbrück, Sachsenhausen und auch in Polen möglich. Der westdeutsche Zweig der Aktion Sühnezeichen sendet die Freiwilligen zu langfristigen Diensten ins Ausland, wo sie sich um Alte, Behinderte und Überlebende der Shoah kümmern. 1991 schließen sich der ost- und der westdeutsche Zweig zur Aktion Sühnezeichen Friedensdienste (ASF) zusammen.

Morgenandacht während eines Sommerlagers der Aktion Sühnezeichen im Martinshof, einer diakonischen Einrichtung für Menschen mit Behinderung in Rothenburg bei Görlitz (1966).
Die Jugendlichen kommen aus der Tschechoslowakei, aus Großbritannien und aus der DDR. Sie helfen in der Pflege oder bei Baumaßnahmen.

Quelle: Ingrid Albani

Im Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung. Der Ort erinnert an das Schicksal der Vertriebenen im Kontext der NS-Verbrechen und weltweiter Zwangsmigrationen.

Quelle: Katharina Jany

Versöhnung zwischen Deutschland und Polen

Um die Anerkennung der Nachkriegsgrenzen wird in der Bundesrepublik lange gerungen. Viele Politikerinnen und Politiker, wie auch die Vertriebenenverbände, weigern sich, den Anspruch auf die ehemals deutschen Ostgebiete aufzugeben. Der Briefwechsel der polnischen und deutschen Bischöfe auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil und die sogenannte Ost-Denkschrift der Evangelischen Kirche („Die Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“) bereiten den Weg für Willy Brandts neue Ostpolitik der Annäherung.

Auch um die Frage der Anerkennung des Leidens von 13 Millionen Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg wird viele Jahre gestritten. Vertriebenenverbände fordern eine zentrale Gedenkstätte. Politikerinnen und Politiker hingegen fürchten eine Relativierung des Holocaust und der anderen von Deutschen verübten Verbrechen. 2021 öffnet das Berliner Dokumentationszentrum Flucht, Vertreibung, Versöhnung.

Reuven Moskovitz – der Mann mit der Mundharmonika

Reuven Moskovitz, ein jüdischer Holocaust-Überlebender aus Rumänien, lebt seit 1947 in Israel und ist Geschichtslehrer. Nach dem Sechstagekrieg 1967 wird er Sekretär der neu entstandenen Bewegung für Frieden und Sicherheit, die sich gegen die Annexion der besetzten palästinensischen Gebiete wendet und sich für die gegenseitige Anerkennung Israels und der arabischen Staaten einsetzt. Er ist Mitbegründer der jüdisch-palästinensischen Siedlung Neve Shalom. Unermüdlich wirbt er im Nahen Osten und in Deutschland für die jüdisch-palästinensische Aussöhnung sowie für die Vertiefung der deutsch-israelischen Beziehungen. Vielerorts ist er als der Mann mit der Mundharmonika bekannt. Reuven Moskovitz glaubt an die verbindende Kraft der Musik. Menschen, die seiner Musik lauschen, stimmen oft in seine Melodien ein oder beginnen zu tanzen. 2003 wird ihm der Aachener Friedenspreis verliehen.

Quelle: Katharina Jany

Gerhard Schöne singt das Lied „Die Mundharmonika“. Es beschreibt, wie Reuven Moskovitz zu einem Mann der Versöhnung wurde (Quelle: Buschfunk)

Gerhard Schöne über seine Begegnung mit Reuven Moskovitz

Reuven Moskovitz (1928–2017)

Quelle: Reuven Moskovitz

Blick auf Lifta, ein jahrtausendealtes Dorf in der Nähe von Jerusalem, aus dem die arabische Bevölkerung 1948 vertrieben wurde.

Quelle: Wikimedia Commons/Ruby1619

In der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem brennt eine schwarze Flamme zur Erinnerung an sechs Millionen ermordete Jüdinnen und Juden.

Quelle: Christian Zeiske

Parents Circle Families Forum (PCFF)

Yitzhak Frankenthal, orthodoxer Jude, verliert seinen Sohn durch einen Terrorakt der Hamas. 1995 gründet er mit anderen jüdischen und palästinensischen Eltern, die ihre Kinder in den Kämpfen verloren haben, den Parents Circle. Die verwaisten Eltern erzählen einander von ihren Schicksalen und Verlusten.

Gemeinsam besuchen sie Orte, aus denen die arabischen Bewohnerinnen und Bewohner 1948 vertrieben wurden, sowie Yad Vashem, die Holocaust-Gedenkstätte in Jerusalem. Gemeinsam gehen sie in Schulen, um über die tödlichen Folgen der Gewalt aufzuklären.

PCFF richtet auch ein Versöhnungszentrum ein und stellt 2002 vor dem Gebäude der Vereinten Nationen Attrappen von Särgen auf, die in israelische und palästinensische Flaggen gehüllt sind.

Die Vision von PCFF wird oft ironisch formuliert: Sie seien der einzige Verein der Welt, der hofft, keine neuen Mitglieder mehr aufnehmen zu müssen.

Christlich-muslimische Versöhnung in Nigeria

In Nigeria kommt es immer wieder zu kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen der christlichen und der muslimischen Bevölkerung. 1992 stehen sich James Wuye, Mitglied einer Miliz junger Christen, und Muhammad Ashafa, Mitglied einer islamischen Jugendorganisation, erstmals als Feinde gegenüber. Beide müssen am Ende der Kämpfe den Verlust naher Familienangehöriger beklagen. James Wuye verliert eine Hand. Die Männer lernen sich 1995 bei einer Bildungsveranstaltung der UNICEF zur Impfung gegen Kinderlähmung näher kennen und überwinden allmählich ihre Vorurteile. Als es sechs Jahre später erneut zu kriegerischen Handlungen kommt, gründen James Wuye, inzwischen evangelischer Pastor, und Muhammad Ashafa, inzwischen Imam, ein interreligiöses Zentrum für Konfliktschlichtung. Ihr Ziel ist es, die Gräben zwischen der muslimischen und der christlichen Bevölkerung zu überwinden und Vertrauen aufzubauen. Gemeinsam suchen sie Konfliktgebiete auf, um verfeindete Gruppen zu versöhnen.

James Wuye und Muhammad Ashafa bei der Verleihung des hessischen Friedenspreises (2013)

Quelle: picture-alliance/dpa/B. Roessler

Nenad Vukosavljević (*1967)

Quelle: KURVE Wustrow

KURVE Wustrow ist eine Bildungs- und Begegnungsstätte im Ort Wustrow/Wendland, in der die Theorie und Praxis des gewaltfreien Widerstandes vermittelt wird. Die Friedensorganisation entsteht 1980 im Zuge der Proteste gegen das Atommülllager in Gorleben.

Quelle: KURVE Wustrow

Versöhnungsarbeit im ehemaligen Jugoslawien

In den Balkankriegen der 1990er Jahre zerfällt der Vielvölkerstaat Jugoslawien. Zahlreiche Kriegsverbrechen werden verübt – Morde, Vergewaltigungen, Vertreibungen. Ehemalige Nachbarinnen und Nachbarn stehen sich nun feindlich gegenüber. Friedensorganisationen aus ganz Europa entsenden Friedensfachkräfte in diese Regionen, um die verfeindeten Gruppen wieder zusammenzubringen.

Der Serbe Nenad Vukosavljević flüchtet 1990 als Kriegsdienstverweigerer nach Deutschland, absolviert hier das internationale Gewaltfreiheitstraining bei KURVE Wustrow und geht 1997 nach Bosnien und Herzegowina. In Sarajewo und Belgrad gründet er das Centre for Nonviolent Action (CNA).

Eine besondere Chance sieht er in der Arbeit mit Kriegsveteranen. Dazu schreibt er: 

„Als Kriegsveteranen sich mehr und mehr zu Dialog und Versöhnung bereit zeigten, hatte dies eine weitaus größere Signalwirkung als zu Zeiten, in denen nur Friedensaktivist*innen dafür plädierten.“ 

aus: KURVE Wustrow (Hg.), Gewaltfreiheit wirkt, S. 34

Wahrheits- und Versöhnungs­kommissionen in Chile

Als Patricio Aylwin 1990 die Präsidentschaft in Chile übernimmt, setzt er eine Wahrheits- und Versöhnungskommission ein, um die Verbrechen der Pinochet-Diktatur aufzudecken und eine nationale Versöhnung zu ermöglichen. Bis zu diesem Zeitpunkt kämpfen hauptsächlich NGOs für die Aufklärung von Menschenrechtsverletzungen. Zunächst werden nur schwerste Verbrechen wie Morde von der Kommission bearbeitet. Nachfolgende Kommissionen klären auch andere Menschenrechtsverletzungen auf. Mit der Aufdeckung der Wahrheit soll ein gemeinsames Geschichtsbild geschaffen und eine weitere Spaltung der Gesellschaft verhindert werden. Ehemalige Anhängerinnen und Anhänger sowie Gegnerinnen und Gegner des Diktators Augusto Pinochet sollen lernen, sich nicht mehr als Feinde zu sehen. Wiedergutmachung gilt als gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

 

Patricio Aylwin Azócar (1918–2016) ist von 1990 bis 1994 der erste demokratisch gewählte Präsident nach Augusto Pinochets Militärdiktatur.

Quelle: Biblioteca del Congreso Nacional de Chile

Die Wand der Vermissten im Museum der Erinnerung und der Menschenrechte in Santiago de Chile erinnert an die Menschen, die in der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet ermordet wurden.

Quelle: Wikimedia Commons/Ciberprofe

Pumla Gobodo-Madikizela (*1955) ist Professorin für Psychologie an der Universität von Kapstadt, Südafrika. Als Mitglied der SATRC führt sie Gespräche mit Eugene de Kock, dem berüchtigten Killer der Geheimpolizei. Die Art, wie sie als Schwarze die Gespräche mit ihm führt, löst bei Eugene de Kock einen Prozess des Umdenkens und der Reue aus. Für ihr Buch, in dem Gobodo-Madikizela die Wirkungen des Gesprächs auf beide Seiten reflektiert, erhält sie 2004 den Alan Paton Award, einen südafrikanischen Literaturpreis sowie den US-amerikanischen Christopher Award.

Quelle: Wikimedia Commons/Pumla Gobodo-Madikizela

Die Wahrheits- und Versöhnungs­kommission in Südafrika

In Südafrika rät der neu ernannte Justizminister Abdullah Omar, ein Moslem indischer Abstammung, dem neu gewählten Präsidenten Nelson Mandela, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission einzurichten – zur Aufarbeitung der Verbrechen aus der Zeit der Apartheid.

Nur durch die Aufdeckung der Wahrheit und eine Versöhnung könne der nationale Zusammenhalt hergestellt werden. Nelson Mandela folgt seinem Rat und setzt 1996 die South African Truth and Reconciliation Commission (SATRC) ein. Vorsitzender ist der anglikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu. Sein Credo lautet: „Versöhnung statt Vergeltung“.

Täterinnen und Täter sollen ihren Opfern gegenübertreten. Wer wahrheitsgemäß die ihm zur Last gelegten Straftaten gesteht, kann mit Straffreiheit rechnen, sofern seine oder ihre Taten politisch motiviert gewesen sind.

Nach fast dreijähriger Arbeit übergibt Desmond Tutu 1998 das Abschlussdokument im Umfang von 4.500 Seiten an Nelson Mandela.

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