KIRCHE UND REVOLUTION
Eine Hoffnung lernt gehen –
Gerechtigkeit, Frieden und
Bewahrung der Schöpfung
Hintergrund
1987 beschließen die Kirchen in der DDR, die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung einzuberufen. Im Februar 1988 kommen in Dresden erstmals in der Geschichte der Kirchen Delegierte aller Konfessionen zusammen. In ungewohnter Deutlichkeit werden aktuelle Probleme öffentlich benannt. Zwölf Ergebnistexte entstehen, die im April 1989 – nach oft kontroversen Debatten – mit großer Mehrheit verabschiedet werden.
Rasche Verbreitung findet vor allem der Text „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“, der die gesellschaftliche Situation kritisch analysiert und politische Veränderungen einklagt. Gefordert werden zum Beispiel eine offene Informationspolitik, ein verändertes Wahlrecht, Chancengleichheit im Bildungssystem und Reisefreiheit. Ebenso ausgiebig werden die Themen Wehrdienstverweigerung, Friedenserziehung und Abkehr vom Abschreckungssystem erörtert.
In dieser Deutlichkeit haben die Kirchen bisher nicht zu politischen Fragen gemeinsam Stellung genommen. Die staatlichen Organe reagieren entsprechend gereizt. Sie können jedoch nicht verhindern, dass die programmatischen Forderungen wenige Monate später – oft wortwörtlich – in den Aufrufen der neuen politischen Gruppierungen wiederkehren. Viele der Delegierten spielen während der revolutionären Veränderungen im Herbst 1989 eine wichtige Rolle.
„Der gewaltfreie Weg des Friedens Christi und die schon erkennbare politische Vernünftigkeit gewaltfreier Konfliktregulierung weisen Kirchen und Christen vorrangig auf gewaltfreie Wege des Friedensdienstes. Als Grundorientierung in den Fragen des Friedens vertreten wir deshalb eine vorrangige Option für die Gewaltfreiheit. (...) Sie leitet die Kirchen (...) dazu an, in all ihrem Engagement selbst dem gewaltfreien Friedensweg Jesu zu folgen.“
„Die Zeit drängt“ –
Konziliarer Prozess der Kirchen
1983 regen Christinnen und Christen aus der DDR an, ein weltweites Friedenskonzil einzuberufen – so wie es bereits der Theologe Dietrich Bonhoeffer 1934 vorgeschlagen hatte. Der Weltrat der Kirchen beschließt einen „konziliaren Prozess“. In seinem Appell „Die Zeit drängt“ auf dem Kirchentag 1985 macht Carl Friedrich von Weizsäcker diese Idee populär.
Die Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen in der DDR bittet 1987 die Gemeinden, Themen zu benennen, die eine ökumenische Versammlung beraten soll. Das Echo übertrifft alle Erwartungen. Es gehen über 10.000 Zuschriften ein, in denen vor allem gesellschaftliche Veränderungen in der DDR angemahnt werden.
Joachim Krause, in den 1980er Jahren „Beauftragter für Glaube und Naturwissenschaft“ der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Sachsen, zur Ökumenischen Versammlung
Ökumenische Versammlungen in Dresden und Magdeburg
146 Delegierte aus 19 christlichen Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften der DDR, darunter sowohl kirchenleitende Personen als auch Mitglieder von Basisgruppen, versammeln sich im Februar 1988 in Dresden, im Oktober in Magdeburg und im April 1989 wieder in Dresden. Sie versuchen die Vorschläge aus den Gemeinden und Gruppen zu bündeln und zu gewichten. Erste Textentwürfe entstehen und werden zwischen den Tagungen in den Gemeinden diskutiert.
Die Beratungen werden von Gottesdiensten, Andachten und Nachtgebeten begleitet. Kirchengemeinden und Basisgruppen organisieren während der Vollversammlungen vielfältige Informations- und Diskussionsangebote.
Reinhard Assmann, 1989 Delegierter der Ökumenischen Versammlung
Reinhard Assmann zur AG „Lebensweise in bedrohter Schöpfung“ der Ökumenischen Versammlung
Ergebnistexte mit politischer Sprengkraft
Zwölf Ergebnistexte werden im April 1989 an die Kirchenleitungen übergeben. Die Resonanz in den Gemeinden und Gruppen ist groß. Die Verknüpfung der „Theologischen Grundlegung“ mit aktuell-politischen Forderungen ermutigt und begeistert.
Manche der Appelle tauchen im Herbst 1989 in den Aufrufen der neuen oppositionellen Gruppen und Initiativen wieder auf. Der Text 3 „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“ gilt schon bald als „Magna Charta der DDR-Opposition“. Viele der an der Versammlung Beteiligten engagieren sich während der Friedlichen Revolution.
Im Mai 1989 findet die erste Europäische Ökumenische Versammlung in Basel statt. Delegierte aus der DDR überbringen die Ergebnisse aus Dresden. Der konziliare Prozess mündet schließlich in die Weltversammlung 1990 in Seoul.
Reinhard Assmann, 1989 Delegierter der Ökumenischen Versammlung, zum Text „Mehr Gerechtigkeit in der DDR“
Reinhard Assmann zur Bedeutung der Texte für die Friedliche Revolution
Brief an die Kinder
Neben den Ergebnistexten verabschieden die Delegierten der Versammlung einen „Brief an die Kinder“. Darin heißt es:
„Die Erde, auf der wir leben, ist sehr bedroht. Schuld daran sind wir, die Erwachsenen. Aber einige haben es doch noch gemerkt. (…) Wir alle müssen uns dafür einsetzen, dass niemand mehr einen anderen Menschen in einem Krieg erschießt. (…) Glaubt nicht, dass wir alles wissen, aber glaubt, dass wir alles tun wollen.“
Zwanzig Jahre später antworten damalige Kinder den Eltern und Großeltern auf einer Tagung des ökumenischen Netzwerkes MEET:
„Wir erkennen, dass die führende Rolle Deutschlands als Waffenexporteur und die Beteiligung an Kriegen eine Anfrage an unseren Glauben ist und uns auch als Kirche in Frage stellt. (…) Wir müssen die von der Ökumenischen Versammlung festgestellte, vorrangige Option für die Gewaltfreiheit wieder in das Zentrum unserer Aufmerksamkeit stellen.“
Pfarrerin Annegreth Schilling, engagiert bei MEET, zum „Brief an die Kinder“
Annegreth Schilling zum „Brief der Kinder an die Eltern“
Annegreth Schilling über die Reaktion von Friedrich Schorlemmer auf den „Brief der Kinder“