Hintergrund
Zwar sind Meinungsfreiheit und Versammlungsfreiheit in der Verfassung der DDR garantiert, aber ein repressives Strafrecht kriminalisiert öffentlichkeitswirksame Kritik an staatlichen Vorgaben und Entscheidungen. So erfordert es ein hohes Maß an Phantasie und Kreativität, die Verbotspraxis der staatlichen Organe zu unterlaufen: „Spaziergänge“ statt Demonstrationen, eine Fahrradsternfahrt zum regionalen Umweltgottesdienst am Wochenende „Mobil ohne Auto“, Baumpflanzaktionen, ein spontanes Straßenmusik-Event – mitunter geduldet, mitunter von den Sicherheitskräften aufgelöst.
Ein herausragendes Ereignis ist der Olof-Palme-Friedensmarsch für eine atomwaffenfreie Zone in Mitteleuropa im September 1987. Der geschickten Verhandlungstaktik kirchlicher Gremien ist es zu verdanken, dass kirchliche Gruppen sich mit eigenen Plakaten und Aktionen beteiligen können. Es wächst die Hoffnung auf Reformen hin zu mehr Demokratie und Bürgerrechten. In den folgenden Monaten erweist sich jedoch, dass die DDR-Führung weder reformwillig noch dialogfähig ist. Weitere öffentlichkeitswirksame Aktionen, die über den kirchlichen Raum hinausreichen, werden nicht toleriert.
Am 18. Mai 1984 organisieren Michael Beleites und der Bitterfelder Kreisjugendpfarrer Jürgen Kohtz einen Protestmarsch von Bitterfeld nach Wolfen. Damit wollen sie auf die Umweltzerstörung in der Region aufmerksam machen. Von links: Christian Halbrock, Oliver Groppler und Jens Albert Möller.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Michael Beleites
Lichterkette am 1. September 1983 in Ostberlin
Die in der Berliner Erlöserkirche beheimatete Aktionsgruppe Fasten für das Leben ruft dazu auf, am 1. September 1983, dem Weltfriedenstag, eine Lichterkette zwischen den Botschaften der UdSSR und der USA zu bilden.
Nur wenige Menschen folgen dem Aufruf. Die Teilnehmenden werden nach kurzer Zeit von den Sicherheitskräften auseinandergetrieben. Mitorganisator Pfarrer Dietmar Linke wird noch im selben Jahr zusammen mit seiner Ehefrau Barbe ausgebürgert, sie leben fortan in Westberlin.
Pilgerinnen und Pilger am 4. September 1987 in Sachsenhausen auf dem Weg zur Abschlussversammlung in der KZ-Gedenkstätte
Quelle: Archiv Bernd Albani
Auch in Ostberlin findet ein Pilgerweg statt. Am Abend des 5. September 1987 ziehen etwa 1.000 Menschen mit DDR-kritischen Transparenten, Losungen und Forderungen von der Zionskirche zur Gethsemanekirche.
Quelle: Archiv Marianne Subklew-Jeutner
Der Olof-Palme-Friedensmarsch
Nach der Ermordung des schwedischen Premierministers Olof Palme im Februar 1986 nehmen Friedensaktivistinnen und -aktivisten aus verschiedenen europäischen Ländern Palmes Vorschlag zur Errichtung eines atomwaffenfreien Korridors auf und planen einen Friedensmarsch quer durch Europa.
Träger dieses Projekts sind die Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte Kriegsdienstgegnerinnen aus der Bundesrepublik, der staatsnahe Friedensrat der DDR und das Friedenskomitee der ČSSR.
Auf Drängen der westdeutschen Mitwirkenden wird auch dem Bund der Evangelischen Kirchen in der DDR gestattet, sich eigenverantwortlich an dem Marsch zu beteiligen. Er startet am 1. September 1987 in Stralsund und führt über mehrere Etappen bis nach Thüringen.
Der kirchliche Freiwilligendienst Aktion Sühnezeichen organisiert in Kooperation mit der Freien Deutschen Jugend (FDJ) einen dreitägigen Pilgerweg zwischen den KZ-Gedenkstätten Ravensbrück und Sachsenhausen. Mehr als 200 Teilnehmende folgen der Einladung.
Martin-Michael Passauer, in den 1980er Jahren Pfarrer der Berliner Sophiengemeinde, über den Pilgerweg von Ravensbrück nach Sachsenhausen
„Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“
Wie in jedem Jahr inszeniert die SED-Führung auch im Januar 1988 eine „Kampfdemonstration“ zum Gedenken an die Ermordung von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Jahr 1919.
Die „Arbeitsgruppe für Staatsbürgerschaftsrecht“, in der sich Ausreisewillige organisiert haben, ruft dazu auf, sich daran zu beteiligen. Sie wollen mit Plakaten auf ihr Anliegen aufmerksam machen. Die Staatssicherheit verhängt Hausarreste und verhaftet vor und während der Demonstration mehr als 100 Menschen.
Die daraufhin einsetzende Solidaritäts- und Protestwelle erfasst das ganze Land in einer bis dahin nicht gekannten Breite. Als sich die meisten der Inhaftierten für eine Entlassung in den Westen entscheiden, wird der Solidaritätsbewegung der Wind aus den Segeln genommen.
Doch das Selbstbewusstsein der kritisch Denkenden im Lande ist deutlich gewachsen. Der Bürgerprotest – noch vorwiegend im kirchlichen Rahmen – wird zum Vorspiel des politischen Aufbruchs im Herbst 1989.
Einige Oppositionelle gelangen bis zum offiziellen Demonstrationszug und entrollen Plakate mit Zitaten aus den Schriften von Rosa Luxemburg: „Die Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden“, „Der einzige Weg zur Wiedergeburt – breiteste Demokratie“.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Bernhard Freutel, RHG_Fo_HAB_15574
Erklärung der oppositionellen Koordinierungsgruppe vom 27. Januar 1988. Am 25. Januar kommt es zu einer neuen Verhaftungswelle. Sie trifft prominente Oppositionelle wie Bärbel Bohley, Lotte und Wolfgang Templin, Ralf Hirsch, Werner Fischer sowie die Schauspielerin Freya Klier.
Quelle: Archiv Bernd Albani
Pleiße-Gedenkumzug am 5. Juni 1988
In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre suchen kirchliche Basisgruppen vermehrt die Öffentlichkeit. In Leipzig organisieren Aktive der Initiativgruppe Leben und der Arbeitsgruppe Umweltschutz anlässlich des Weltumwelttages am 5. Juni 1988 einen „Pleiße-Gedenkumzug“.
Neben dem generellen Problem der Umweltverschmutzung soll auf den Fluss Pleiße aufmerksam gemacht werden. Zur Teilnahme am Umzug wird mit Handzetteln aufgerufen. Bis zu 200 Menschen beteiligen sich an der Veranstaltung, die von den Sicherheitskräften nicht unterbunden wird.
Nach diesem Erfolg wird der Gedenkumzug im Jahr darauf verboten. Kurz zuvor sind zahlreiche der Aktiven verhaftet, andere unter Hausarrest gestellt worden. Zwar kann die Staatsmacht 1989 die Veranstaltung verhindern, die dazugehörigen Gottesdienste sind jedoch gut besucht und die vielen Verhaftungen erzeugen öffentlichen Protest und Solidarität.
Aufruf zur demokratischen Erneuerung
Anfang 1989 rufen in Leipzig Bürgerrechtsgruppen unter dem fiktiven Namen „Initiative zur demokratischen Erneuerung unserer Gesellschaft“ zu einer alternativen Liebknecht-Luxemburg-Demonstration am 15. Januar auf. Sie fordern Meinungsfreiheit und Demokratie.
Etwa 5.000 Exemplare des illegal gedruckten Aufrufs können trotz Verhaftungen verteilt werden. Mehr als 500 Menschen nehmen an der Demonstration teil, 53 von ihnen werden verhaftet.
Auf der gleichzeitig stattfindenden Abschlusstagung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) in Wien reklamieren Politikerinnen und Politiker die Einhaltung der Menschen- und Bürgerrechte in der DDR. Am 24. Januar werden die Ermittlungsverfahren eingestellt.
Fred Kowasch, Mitinitiator der Demonstration, bei seiner Rede auf dem Marktplatz. Danach soll der Weg zum Geburtshaus von Karl Liebknecht führen. Nach etwa 450 Metern löst die Polizei die Demonstration auf und nimmt 53 Demonstrierende fest, darunter Fred Kowasch.
Quelle: Archiv Bürgerbewegung Leipzig e. V., Foto 012-003-001
Einladung des Friedenskreises Weißensee zur Vorbereitung auf die Wahlbeobachtung
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft, RG/B 04
Stimmenauszählung vor kritischen Beobachterinnen und Beobachtern in einem Ostberliner Wahllokal am 7. Mai 1989
Quelle: Bundesstiftung Aufarbeitung, Klaus Mehner, Bild 89_0507_POL_Wahlen_19
Kontrolle der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989
Die Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 offenbaren die demokratischen Defizite in der DDR. Sie führen zu weiteren Glaubwürdigkeitsverlusten des Staates und verschärfen die Krise des SED-Regimes.
Die Überwachung der Stimmauszählungen und der Nachweis der Wahlmanipulation werden zu einem Aufbruchssignal der DDR-Bürgerrechtsbewegung und ziehen Proteste im ganzen Land nach sich.
Die Wahl 1989 findet in einem sich verändernden politischen Klima innerhalb des sozialistischen Staatensystems statt. Die Politik des sowjetischen Parteichefs Michail Gorbatschow, der sich ab 1985 für einen Kurs der Umgestaltung seines Landes und der mit ihm verbündeten Staaten einsetzt, führt insbesondere in Polen und Ungarn zu Veränderungen und findet auch unter der DDR-Bevölkerung Anklang.
Am 7. Mai folgen in fast 1.000 Wahllokalen Bürgerinnen und Bürger den Aufrufen der oppositionellen Gruppen und beobachten die Stimmauszählung. Ihre Ergebnisse weichen zum Teil erheblich von den offiziellen Zahlen ab und offenbaren eine systematische Wahlfälschung.
Proteste gegen die Wahlfälschung
Mit ihrem Protest gegen die Manipulation der Kommunalwahlen am 7. Mai 1989 durch SED und Regierung erreicht die Opposition in der DDR eine neue Qualität und Strahlkraft innerhalb der Gesellschaft. Informiert wird über den Wahlbetrug vor allem in kirchlichen Kreisen, auf Flugblättern sowie im Radio und Fernsehen der Bundesrepublik, die weite Teile der DDR-Bevölkerung erreichen.
Fortan kommt es an jedem 7. eines Monats vor Kirchen und auf dem Berliner Alexanderplatz zu Demonstrationen gegen die Wahlfälschung. Die Stasi versucht vergeblich, die Proteste zu unterdrücken. Die Manipulationen und der Widerstand dagegen geben der Wut auf das System zunehmend Auftrieb.
Protest gegen den Wahlbetrug – Martin-Michael Passauer, Ende der 1980er Jahre Referent von Bischof Gottfried Forck, erzählt
In der Berliner Sophienkirche versammeln sich am 7. Juni 1989 Demonstrierende, um gegen die Manipulation der Kommunalwahlen einen Monat zuvor zu protestieren. Die Polizei löst die Demonstration auf und verhaftet zahlreiche Menschen.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft/Hans-Jürgen Röder, RHG_Fo_HAB_15005
Im September 1989 lassen sich die Proteste gegen den Wahlbetrug nicht mehr unterdrücken. Mit Flugblättern oder durch Mundpropaganda wird zu den Demonstrationen aufgerufen.
Quelle: Robert-Havemann-Gesellschaft
Jochen Läßig von der oppositionellen Initiativgruppe Leben bei seinem Auftritt vor dem Messehaus am Markt
Quelle: GMRE (Rainer Justen, F.A. 02753) 1
Plakat von Katrin Hattenhauer und Cornelia Fromme. Sie sind im Arbeitskreis Gerechtigkeit aktiv.
Quelle: GMRE (Gestaltung Katrin Hattenhauer und Cornelia Fromme, Inv.-Nr. 17099)
Freiheit mit Musik
Mitglieder von Leipziger Basisgruppen laden alternative Musik- und Künstlergruppen zu einem Straßenmusik-Festival am 10. Juni 1989 ein. Das Motto: „Freiheit mit Musik“.
Es soll ein Zeichen gesetzt werden für die Legalisierung von Straßenmusik. Trotz des Verbots der Veranstaltung reisen Musikerinnen und Musiker aus allen Teilen der DDR nach Leipzig. Bis in die Mittagsstunden wird auf den Straßen der Innenstadt musiziert und Theater gespielt. Dann schreiten die Sicherheitskräfte ein und beginnen Künstlerinnen und Künstler, aber auch Unbeteiligte gewaltsam auf LKW zu verladen. 84 Menschen werden festgenommen.
Vor dem Polizeirevier in der Ritterstraße versammeln sich Bürgerinnen und Bürger und fordern die Freilassung der Verhafteten. Bis in die Abendstunden dauern die Proteste an.
Als Reaktion auf die Ereignisse lädt Kapellmeister Kurt Masur zu einer Veranstaltung mit dem Titel „Straßenmusik in Vergangenheit und Gegenwart“ am 28. August ins Gewandhaus ein.
Proteste gegen die Niederschlagung der Demokratiebewegung in China
Weltweit löst das Massaker an regimekritischen Studierenden auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking am 4. Juni 1989 Wut und Protest aus.
Die Protestaktionen in der DDR werden von Stasi und Polizei zumeist unterbunden. Doch die zustimmende Reaktion der SED-Führung auf das Vorgehen der chinesischen Kommunisten empört viele. Die demonstrativen Reisen von Hans Modrow, Günter Schabowski und Egon Krenz nach Peking in den folgenden Wochen und Monaten werden in der DDR-Bevölkerung als Drohgebärde verstanden.
Die Furcht vor einer blutigen Niederschlagung der Proteste in der DDR, auch als „chinesische Lösung“ bezeichnet, verfolgt im Herbst 1989 viele Demonstrierende in der DDR. Umso dringlicher richtet sich der Apell „Keine Gewalt“ sowohl an die Sicherheitskräfte als auch an die Protestierenden.