AKTEURE DER REVOLUTION
Basisgruppen
Hintergrund
Kirchliche Jugendgruppen und Gesprächskreise, Studentengemeinden, Freundeskreise von Bausoldaten und andere informelle Gruppen bieten ein soziales Milieu, in dem Menschen mit systemkritischer Haltung zusammenfinden. In den 1960er Jahren und in der ersten Hälfte der 1970er beschäftigen sich diese Gruppen meist mit theologischen Fragen und Problemen verantwortlicher Lebensführung. Angesichts einer neuen Runde des atomaren Wettrüstens und der offensichtlichen Umweltprobleme wenden sich seit Beginn der 1980er Jahre immer mehr Menschen diesen Themen zu. Unabhängig von Konfession und Kirchenzugehörigkeit finden sie im kirchlichen Umfeld Gleichgesinnte. Auch die Ausplünderung der „Zweidrittelwelt“ – der Begriff Dritte Welt wird als diskriminierend empfunden – gerät zunehmend ins Blickfeld, ebenso die Defizite bei den Menschen- und Bürgerrechten in der DDR. Immer wieder geht es um Fragen von Demokratie, Freiheit und Öffentlichkeit.
Aus den Gemeinden heraus formieren sich DDR-weit etwa dreihundert Friedens-, Umwelt-, Menschenrechts- und Eine-Welt-Gruppen. Hier ist der offene Meinungsstreit möglich, hier können Informationen über die gravierenden Umweltprobleme gesammelt und ausgetauscht werden. Hier erfahren Menschen, die von staatlicher Repression betroffen sind, praktische Solidarität. In immer wieder neuen und fantasievollen Aktionen ist man bemüht, eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. So sind die Basisgruppen Übungsfelder der Demokratie und einer alternativen politischen Kultur.
Die DDR-Führung ist alarmiert und fürchtet den Kontrollverlust. Wer eine öffentliche Diskussion einfordert, etwa über die gravierenden Umweltprobleme, wird von der Staatssicherheit als „feindlich negativ“ kriminalisiert. Kirchliche Amtsträger sind bemüht, Konflikte mit dem Staat zu minimieren, um Freiräume kirchlichen Lebens zu erhalten. Sie versuchen, die Initiativen „einzuhegen“. Kirchliches Engagement für Abrüstung und Umweltschutz soll nicht in politische Aktionen münden. Doch diese Entwicklung ist nicht zu stoppen. Die Basisgruppen werden zur Wiege der Opposition, die im Herbst 1989 den politischen Aufbruch anstößt.
Hans-Jürgen Röder, in den 1980er Jahren Ostberlin-Korrespondent des epd, über das Verhältnis von Gruppen und Kirchenleitungen
Der Friedenskreis Pankow
Der Pankower Friedenkreis wird im Herbst 1981 gegründet. Als ein Arbeitskreis der Evangelischen Kirchengemeinde Alt-Pankow in Berlin ist er Teil der unabhängigen Friedensbewegung in der DDR.
Für jedermann offen treffen sich die Mitglieder einmal im Monat und diskutieren über zuvor in kleineren Gruppen erarbeitete Themen. Außerdem bereiten sie Gottesdienste oder die Teilnahme an kirchlichen Veranstaltungen vor. Neben dem dominierenden Friedensthema geht es auch um Umweltschutz und alternative Erziehungskonzepte.
Obwohl die Kritik am SED-Staat eher gemäßigt formuliert wird, versucht die Stasi etliche der etwa 30 aktiven Mitglieder massiv unter Druck zu setzen und einzuschüchtern. Unter ihnen sind auch Ruth und Hans-Jürgen Misselwitz, die den Friedenskreis ins Leben gerufen haben. Zahlreiche Inoffizielle Mitarbeiter (IM) werden auf sie angesetzt und Zersetzungsmaßnahmen durchgeführt. Zu den monatlichen Diskussionsrunden werden MfS-Angehörige und ausgesuchte SED-Genossinnen und -Genossen entsandt, um die Arbeit des Friedenskreises zu sabotieren.
Marianne Subklew-Jeutner, Mitglied des Friedenskreises Pankow, erinnert sich
Stand des Pankower Friedenskreises bei der Friedenswerktstatt 1984 auf dem Gelände der Erlöserkirche. Aktionen der Stasi können nicht verhindern, dass viele Engagierte eine wichtige Rolle vor und in der Friedlichen Revolution spielen.
Quelle: Archiv Hans-Jürgen Czerwon
Plakat von Martin Hoffmann. Die Gestaltung von Themen- und Gemeindeabenden gehört ebenfalls zu den Aktivitäten des Friedenkreises.
Quelle: Martin Hoffmann
Die Staatssicherheit besetzt in der Nacht vom 24. zum 25. November 1987 die Umweltbibliothek. Sieben UB-Mitarbeiter werden verhaftet. Mit dem Druck der Zeitschrift „grenzfall“ ist noch nicht begonnen worden, so dass der Stasi kein Beweismaterial in die Hände fällt.
Quelle: BArch, MfS, HA XX, Fo, Nr. 59, Bild 12
Vor der Zionskirche beginnt eine Mahnwache. Fürbittandachten, Solidaritätserklärungen und kirchliche Diplomatie erzwingen die Freilassung der Inhaftierten.
Quelle: Hans-Jürgen Röder
Die Umweltbibliothek in der Zions-Gemeinde in Berlin-Mitte
Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl im April 1986 gibt der Umweltbewegung Auftrieb. Es wächst das Bedürfnis nach Literatur, die in der DDR nicht zugänglich ist. Im September 1986 gründet eine Gruppe um Wolfgang Rüddenklau die Umweltbibliothek (UB). Pfarrer Hans Simon stellt ihr Kellerräume im Gemeindehaus der Zionsgemeinde zur Verfügung.
Roland Jahn, Bürgerrechtler aus Jena, der 1983 in den Westen abgeschoben worden war, und Mitglieder der GRÜNEN in Westberlin sind bei der Beschaffung von Literatur behilflich. Auch „Samisdat“-Publikationen aus der DDR stehen den Nutzenden zur Verfügung. Es finden Lesungen, Diskussionen und Konzerte statt. Die UB wird zu einem Anlaufpunkt für Engagierte aus der Oppositionsbewegung.
Mit dem Vermerk „Nur für innerkirchlichen Dienstgebrauch“ gibt die UB eine eigene Zeitung, die „Umweltblätter“, heraus. Auch die illegale Zeitschrift „grenzfall“ der Initiative Frieden und Menschenrechte wird hier gedruckt.
Der Ökologische Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke
Eine Gruppe um den Dresdner Superintendenten Christof Ziemer gründet 1980 den Ökologischen Arbeitskreis der Dresdner Kirchenbezirke (ÖAK).
Immer mehr Gruppen und Veranstaltungen ermöglichen die Mitarbeit über den kirchlichen Raum hinaus. Innerhalb der Kirchengemeinden setzt ein Nachdenken über die Schöpfungsverantwortung ein. Das Waldsterben, die Luftverschmutzung und die Belastung der Gewässer fordern zu konkreten Aktionen heraus. Es finden Baumpflanzungen im Erzgebirge statt und die Initiative „Saubere Luft für Ferienkinder“ lässt Kinder aus belasteten Regionen zu Gasteltern in Reinluftgebiete reisen. Gemeinsam mit dem Christlichen Umweltseminar Rötha wird die Aktion „Eine Mark für Espenhain“ ins Leben gerufen: 80.000 Beteiligte fordern mit ihrer Unterschrift und einer symbolischen Spende von einer Mark die Rekonstruktion des stark umweltbelastenden VEB Braunkohlenveredlung Espenhain.
Die jährlich veranstaltete Umweltwoche findet breite Resonanz. Von dieser Arbeit gehen wesentliche Impulse aus, die über den Konziliaren Prozess in die Friedliche Revolution münden.
Joachim Krause, Naturwissenschaftler, über den Ökologischen Arbeitskreis in Dresden
Die Kreuzkirche beim Kirchentag 1983 in Dresden. Das „Grüne Kreuz“ aus Salatköpfen im Altarraum signalisiert: „Erste Hilfe“ für die Umwelt tut not. Nach der Aktion werden die Salatköpfe an Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Kirchentages verteilt.
Quelle: Hans Strehlow
Es gibt vielfältige Möglichkeiten der Mitarbeit im Arbeitskreis.
Quelle: Archiv Klaus Gaber
Informationsstand der Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua beim Petersbergtreffen in Halle am 12. Mai 1985. Im Hintergrund rechts Karim Saab, neben ihm Willi Volks, der spätere INKOTA-Geschäftsführer und Projektreferent Zentralamerika.
Quelle: Rainer Kühn
Solidaritätsveranstaltung der IHN „Drei Tage für Monte Fresco“ in der Michaeliskirche Leipzig im Oktober 1984. Willi Volks arbeitet 1989, noch zu DDR-Zeiten, als Sportlehrer in Monte Fresco, ausgestattet mit einem Stipendium des Ökumenischen Rats der Kirchen.
Quelle: Rainer Kühn
Hoffnung Nicaragua
Die Revolution 1979 in Nicaragua weckt Hoffnung auf einen anderen Sozialismus. 1981 gründet Karim Saab mit zwei Freunden die Initiativgruppe Hoffnung Nicaragua (IHN), später kommen neben anderen Hans-Joachim Döring und Willi Volks dazu. Die Gruppe wird von der Superintendentur Leipzig unterstützt. Wie die meisten Eine-Welt-Gruppen arbeitet die IHN mit dem ökumenischen Netzwerk INKOTA zusammen („Information, Koordination, Tagungen zu Problemen der Zweidrittelwelt“).
Die IHN durchbricht das Solidaritätsmonopol des Staates und unterstützt direkt eine Landschule in Monte Fresco. Spenden für das Projekt (fast 100.000 Mark) werden vor allem durch Kunstauktionen und Benefizkonzerte gesammelt.
Die Gruppe konfrontiert den DDR-Sozialismus mit dem emanzipatorisch-sozialistischen Modell, das in Nicaragua nach dem Sturz der Diktatur praktiziert wird. Sie wirkt bei den Montagsgebeten in der Nikolaikirche mit und initiiert die Veranstaltungsreihe „Hoffnung und Politik”. Ab 1987 veröffentlicht die Gruppe die kleine Zeitschrift „IHN-Post“.
Die Initiative Frieden und Menschenrechte
Name und Signet der Zeitschrift „grenzfall“ senden eine klare Botschaft: Die Mauer muss weg. Herausgegeben von der Initiative Frieden und Menschenrechte entwickelt sich die 1986 und 1987 erst unregelmäßig, dann monatlich erscheinende Publikation zu einem wichtigen Sprachrohr der Gegenöffentlichkeit im SED-Staat.
Die Exemplare werden von Hand zu Hand gereicht. Mit ihren kritischen Berichten zu Menschen- und Bürgerrechten in der DDR und anderen Ländern des sowjetischen Herrschaftsbereichs, über die Atomkatastrophe von Tschernobyl sowie über kommunistische Geschichtsfälschungen ermutigen sie die Menschen, die SED-Propaganda zu hinterfragen.
Als erste Bürgerrechtsgruppe in der DDR versteht sich die Initiative Frieden und Menschenrechte als unabhängig von der Evangelischen Kirche. Gegründet 1985 gehören ihr mit Bärbel Bohley, Werner Fischer, Wolfgang Templin, Gerd und Ulrike Poppe führende DDR-Oppositionelle an.
Ulrike Poppe, Bürgerrechtlerin, über die Initiative Frieden und Menschenrechte
Kirche von Unten
Die vielen Friedens-, Menschenrechts- und Zweidrittel-Welt-Gruppen sind für die SED-Führung ein wachsendes Ärgernis. Sie sieht in ihnen eine nur schwer zu kontrollierende Gefahr und übt daher in den 1980er Jahren immer stärkeren Druck auf die Leitungen der Evangelischen Kirchen aus, die Arbeit der Basisgruppen einzuschränken. Dagegen wehren sich zahlreiche Engagierte. Parallel zum Evangelischen Kirchentag in Berlin 1987 organisieren sie einen „Kirchentag von Unten“. Die Resonanz ist so groß, dass sie sich entschließen, eine überregionale Basisgruppe zu gründen, die Kirche von Unten. Sie organisiert Konzerte, beteiligt sich an der Auszählung der Kommunalwahlergebnisse im Mai 1989 und thematisiert das Anwachsen der gewaltbereiten Neonazi-Szene in der DDR. Besonders in Berlin wird sie zum Anziehungspunkt für viele Jugendliche und ist ein Aktivposten in der Friedlichen Revolution.
Der Friedenskreis Bitterfeld
Aus der engen ökumenischen Zusammenarbeit der evangelischen, katholischen und baptistischen Gemeinden entsteht 1983 der Friedenskreis der Gemeinden Bitterfelds (FdGB). Zunächst bestimmen theologische und politische Themen die Arbeit. Neue Bücher und aktuelle Texte aus Kirche und Gesellschaft werden diskutiert sowie Statements verfasst. Der Kreis wirkt mit bei der Gestaltung der Friedensdekaden, berät Wehrpflichtige und begleitet Bausoldaten vor Ort. Eingaben an die Behörden werden verfasst, zum Beispiel für eine atomwaffenfreie Zone im Kreis Bitterfeld. Es gibt gemeinsame Aktionen mit der kirchlichen Umweltgruppe der Stadt.
Im Herbst 1989 gründen Mitglieder des FdGB die Bürgerinitiative Bitterfeld (BiB). Sie organisieren Friedensgebete, Demonstrationen und schließlich den Runden Tisch, der die rasanten Veränderungen im Zuge der Friedlichen Revolution in der Stadt koordiniert.
Die Stasi legt einen operativen Vorgang „Gruppe“ an und es gelingt ihr, zwei Inoffizielle Mitarbeiter (IM) im FdGB zu installieren.
Quelle: BArch, MfS, BV Halle, KD Bitterfeld, AOP 1428/86
In der baptistischen Friedenskirche finden seit Oktober 1989 die ersten Bürgerversammlungen und die Gründung der BiB statt.
Quelle: Reinhard Assmann